Baumfrevel

Autor
Oberst i. G. Horst Wiesinger

Heute sind wir mal nicht im schönen Kochertal, sondern legen in unmittelbarer Nähe der Standortschießanlage in Ellwangen Minensperren an. Es gibt wenige Dinge, die den Pionieren mehr Freude machen. Man ist den ganzen Tag an der frischen Luft (die ganze Nacht übrigens auch), hat einen klaren Auftrag, in einer Minensperre ist eine leicht verständliche Systematik verborgen (was war das nun wieder, die Zentralmine? Eine Splittermine oder eine Panzerabwehrmine?) und die beste Nachricht von allen, wir hatten immer mehr Minen als wir schleppen konnten. Besonderen Wert legten wir Zugführer immer auf die Kennzeichnung der Minensperren im Gelände, damit man sie, nachdem die Gefechtshandlungen beendet waren, auch eindeutig wiederfinden und räumen konnte. Dazu gab es in der Vorschrift die Möglichkeit behelfsmäßige Festpunkte anzulegen, wobei man dicke Pflöcke in den Boden schlug und entsprechend mit Bandstacheldraht miteinander verband. An jenem Tag war mein Zug mit einer sehr großen Auffangminensperre beschäftigt und ich teilte einen Gruppenführer mit zwei Mann ein, um die behelfsmäßigen Festpunkte anzulegen und den Minensperrnachweis zu erstellen. Nach überraschend kurzer Zeit kam der Gruppenführer mit seiner Mannschaft zurück und meldete den Abschluss der Arbeiten. Da ich vermutete, dass man hier etwas gepfuscht und nur dünne Bohnenstangen in den Boden gerammt hatte, befahl ich dem Gruppenführer mir den von ihm angelegten behelfsmäßigen Festpunkt zu zeigen. Wir marschierten entlang des Waldrandes und tatsächlich, da lag er, mustergültig aufgebaut, perfekt in den Abmessungen und mit einem zentralen Pfahl in der Mitte, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, fast oberschenkelstark im Durchmesser. Was müssen meine Pioniere da gewuchtet haben, um diesen Pfahl, der unter meinen Fußtritten nicht einen Millimeter nachgab, so tief in den Boden zu rammen. Ich lobte den Gruppenführer für die perfekte Arbeit und ging zurück zum Zug, um eine Abschlussbesprechung durchzuführen. Was war ich stolz auf meinen Pionierzug, der so schöne Auffangminensperren mit so perfekten behelfsmäßigen Festpunkten anlegen konnte!

Tage später bekamen wir Besuch in der Kaserne – von einem Revierförster. Nun ist die Zusammenarbeit mit Förstern eigentlich eine Stärke der Pioniertruppe, da wir doch mit unseren Motorsägen und Pioniermaschinen im Wald unendlich viel Gutes tun können (die Panzerpionierkompanie bekam da sogar mal ein Dampfstrahlgerät geschenkt, weil wir so einen schönen Weg gebaut hatten – wieder einmal alles verjährt, lach) aber bei diesem Revierförster verhielt es sich anders. Er war sehr erregt, sprach mit überschlagender Stimme und meinte nur immer wieder, „das wird teuer, das wird teuer!“ Nachdem man mich als Verantwortlichen für die besagte Ausbildung ausfindig gemacht hatte, durfte ich mit dem Förster zusammen ins Gelände fahren. Er deutete an, dass wohl im Rahmen einer Ausbildung ein Baum gefällt worden wäre. Nun lässt mich das Fällen von einzelnen Bäumen an sich kalt (manchmal haben wir beim Rückwärtseinparken mit dem Biber und einer kleinen Wende auf der Hochachse gleich bis zu fünf Bäumen dem Erdboden gleich gemacht) aber der Förster konnte sich überhaupt nicht beruhigen und ich zeigte entsprechende Anteilnahme an seiner Erregung, wusste ich doch als junger Offizier schon damals, wie wichtig die zivil-militärische Zusammenarbeit ist. Da standen wir nun in der Nähe der Standortschießanlage und schauten auf das Waldstück, welches eine natürliche Grenze meiner Auffangminensperre gebildet hatte. Ich war angetan von den vielen Bäumen die ich sehen konnte. Nach meiner Überzeugung fehlte da nicht einer! Als ich dies so dem Förster sagte konnte er gar nicht mehr an sich halten und sagte, „ich zeige Ihnen was ich meine, Herr Leutnant“, stieg aus seinem Geländefahrzeug aus und bat mich ihm zu folgen. Wir stapften also entlang des Waldrandes Richtung meines perfekten behelfsmäßigen Festpunktes. Oh, dachte ich mir, da wird doch nicht irgendwo Bandstacheldraht rumliegen und sich ein armes Rehlein die Läufe aufgerissen haben. Aber nein, noch bevor wir den behelfsmäßigen Festpunkt erreichten, bog der Förster hart links ab, brach sich einen Weg durchs Unterholz und trat nach etwa 10 Metern auf eine kleine Waldlichtung. Ich folge ihm und war von der mich empfangenden Idylle geradezu überwältigt. Eine Waldlichtung so einsam und friedlich wie keine zweite im ganzen Landkreis. Was wollte er dort mit mir, waren wir doch nie dort gewesen im Rahmen des Sperreinsatzes? Der Förster zeigte auf einen auf der Waldlichtung liegenden Baum, den ich nicht sofort einer Baumart zuordnen konnte und sprach zu mir: „Dies Herr Leutnant, ist eine seltene Wildkirsche, nein, dies war eine seltene Wildkirsche. Aus diesen Bäumen wird bevorzugt Furnierholz für die Möbelindustrie gemacht. Ihre Männer haben diesen Baum gefällt, noch vor wenigen Tagen stand er etwas außerhalb des Waldrandes freistehend und sich prächtig entwickelnd. Dort ist jetzt nur noch der Stumpf zu finden, der traurig aus der Erde ragt.“

Oh, oh, schlagartig war es mir bewusst. Mein Gruppenführer hatte nicht einen oberschenkeldicken Pfahl in den Boden gerammt, sondern einen zwölf Meter in den Himmel ragenden, aus dem Boden wachsenden Pfahl kurzerhand abgesägt, um den behelfsmäßigen Festpunkt zu errichten. Ich wusste gar nicht wie teuer Bäume sein können! Er hat uns 14 Tage Arbeitseinsatz in dem Waldstück gekostet und raten Sie mal, wer abends der letzte Mann war, der die Motorsäge abstellte oder die Axt gegen einen Baumstamm lehnte. Es war mein Gruppenführer! Seit diesem Zeitpunkt ein Liebhaber seltener Baumarten. Er soll sich später, als er jung verheiratet war, ein Schlafzimmer in Rotkirschedekor gekauft haben. Wahrscheinlich könnten mir Psychologen sagen, dass das etwas mit einem Trauma zu tun hat – ich glaube das nicht. Aber zum Glück ist wieder mal alles verjährt, lach.